2013 „Sozialtourismus”
Pressemitteilung der Jury: Wahl des 23. „Unworts des Jahres“
“Im Zuge der Diskussion um erwünschte und nicht erwünschte Zuwanderung nach Deutschland im letzten Jahr wurde von einigen Politikern und Medien mit dem Ausdruck „Sozialtourismus“ gezielt Stimmung gegen unerwünschte Zuwanderer, insbesondere aus Osteuropa, gemacht.
Im letzten Jahr ist die Diskussion um erwünschte und nicht erwünschte Zuwanderung nach Deutschland wieder aktuell geworden. In diesem Zusammenhang wurde von einigen Politikern und Medien mit dem Ausdruck „Sozialtourismus“ gezielt Stimmung gegen unerwünschte Zuwanderer, insbesondere aus Osteuropa, gemacht. Das Grundwort „Tourismus“ suggeriert in Verdrehung der offenkundigen Tatsachen eine dem Vergnügen und der Erholung dienende Reisetätigkeit. Das Bestimmungswort „Sozial“ reduziert die damit gemeinte Zuwanderung auf das Ziel, vom deutschen Sozialsystem zu profitieren. Dies diskriminiert Menschen, die aus purer Not in Deutschland eine bessere Zukunft suchen, und verschleiert ihr prinzipielles Recht hierzu.
Der Ausdruck „Sozialtourismus“ reiht sich dabei in ein Netz weiterer Unwörter ein, die zusammen dazu dienen, diese Stimmung zu befördern: „Armutszuwanderung“ wird im Sinne von „Einwanderung in die Sozialsysteme“ ursprünglich diffamierend und nun zunehmend undifferenziert als vermeintlich sachlich-neutraler Ausdruck verwendet. Mit „Freizügigkeitsmissbrauch“ wird denjenigen, die die in der EU jetzt auch für Menschen aus Bulgarien und Rumänien garantierte Freizügigkeit nutzen, ein kriminelles Verhalten unterstellt. Der Ausdruck „Sozialtourismus“ treibt die Unterstellung einer böswilligen Absicht jedoch auf die Spitze.”
Stefan Daub, sozialtourismus
„Wer nutzt wen aus?“
Viele Zuwanderer zahlen bis zu 200 Euro im Monat für eine Schlafplatz in einem überfüllten Wohnhaus, einem Kellerverschlag oder einem Transporter. Mit dieser „Matratzen-Vermietung“ verdienen Vermieter ein Vielfaches von dem, was sie regulär mit ihren Wohnungen einnehmen würden.
„Bei der großen Menge an Mietern kommen so teilweise Summen von 12.000 Euro monatlich zusammen. Mit einer regulären Vermietung würden die Hausbesitzer vielleicht gerade einmal 3000 Euro verdienen.“
Zitat von Christian Schmitt, Geschäftsführer der Julius Ewald Schmitt Grundstücksgesellschaft bR
Etwa 50 solcher Häuser gibt es alleine in der Dortmunder Nordstadt.
www.stefandaub.de
Julia Essl, sozialtourismus
links: Adam aus Mainz, pflegebedürftig rechts: Marina aus Bulgarien, examinierte Altenpflegerin
Was wäre, wenn ... ... die examinierte Altenpflegerin mit Berufserfahrung, auf der Suche nach Arbeit außerhalb Ihres Landes, sich so gedemütigt fühlt, weil sie als Sozialtouristin beschimpft wird, nicht nach Deutschland einwandert?
WWW.JULIAESSL.DE
Albrecht Haag, sozialtourismus
Laut Duden gibt es zwei Bedeutungen für den Begriff Sozialtourismus:
Bemühungen, besonders einkommensschwachen Schichten der Bevölkerung die Möglichkeit einer Ferienreise zu bieten
(abwertend) Gesamtheit der Ortswechsel, die die Betreffenden nur vornehmen, um sich in den Genuss bestimmter Sozialleistungen zu bringen
Letztere Bedeutung wird zwar gerne von CSU & Co. zur politischen Willensbildung bemüht, ist aber nach derzeitiger Faktenlage wirtschaftlich nicht relevant. Tropical Islands in Brandenburg ist dagegen rundum die Uhr verfügbar, gut geheizt und man kann da auch wohnen.
Es bleibt zu prüfen, ob beide Konzepte idealerweise vereinbar sind.
www.albrecht-haag.de
Christoph Kelz, sozialtourismus
GELD. MACHT. SEHNSUCHT.
Egal, wie Sie diese Worte lesen: Sie sind eng miteinander verknüpft und zeigen das auslösende Prinzip des „Sozialtourismus“ auf.
www.christophkelz.com
Jens Steingässer, sozialtourismus
Bilaterale Tourismusbranche
Sextourismus Der Sextourismus lebt von den niedrigeren Preis- und Lohnniveaus in den bereisten Ländern. Die Arbeitskraft wird in diesen Ländern im Allgemeinen weit geringer vergütet als in den Herkunftsländern der (Sex-)Touristen. Auch sexuelle Dienstleistungen werden meist zu sehr viel niedrigeren Preisen angeboten. Da gerade für die Frauen dieser (Reise-)Länder meist wenige finanziell attraktive Arbeitsmöglichkeiten bestehen, bietet die Arbeit als »Sexarbeiter« oft deutlich bessere Verdienstmöglichkeiten als andere Berufe.
Sozialtourismus Der Sozialtourismus lebt von den hohen Preis- und Lohnniveaus in den bereisten Ländern. Die Arbeitskraft wird in diesen Ländern im Allgemeinen weit höher vergütet, als in den Herkunftsländern der (Sozial-)Touristen. Auch soziale Dienstleistungen werden meist zu sehr viel höheren Preisen angeboten. Da gerade für die hochqualifizierten Arbeitskräfte dieser (Herkunfts-)Länder meist wenige finanziell attraktive Arbeitsmöglichkeiten bestehen, bietet die Arbeit als »Sozialtourist« oft deutlich bessere Verdienstmöglichkeiten als andere Berufe im Herkunftsland.
www.jens-steingaesser.de
Rahel Welsen, sozialtourismus
Die Angst:
(Ex)-Innenminister Hans-Peter Friedrich: „Bedeutet Freizügigkeit in Europa, dass Menschen überall aus Europa, die glauben, dass sie von Sozialhilfe in Deutschland besser leben können als in ihren eigenen Ländern, nach Deutschland kommen?“
Zahlen:
Hochschulabschluss in einem MINT-Fach: Rumänen und Bulgaren 8%, Zuwanderer gesamt 10%, deutsche Gesamtbevölkerung 6% Hartz-4-Empfänger (2011): Rumänen und Bulgaren 10%, Zuwanderer gesamt 16%, deutsche Gesamtbevölkerung 7,5%
Zuwanderer in leitenden Positionen (2011): 22,8%
Fazit:
Alles in allem, so lautet der Befund einer Untersuchung des Sachverständigenrats für Zuwanderung und Integration, sind die Deutschen unterm Strich Nutznießer der Immigration. Sie profitieren, trotz der hohen Arbeitslosigkeit unter den Ausländern und den damit verbundenen hohen staatlichen Ausgaben, mehr von deren Steuerzahlungen und Sozialversicherungsbeiträgen als jene umgekehrt vom Geld der Deutschen.
www.rahel-welsen.de
Andreas Zierhut, sozialtourismus
links: Fotokopie eines Portraits einer ertrunkenen Familie in einer Grabstätte von Opfern des großen Schiffsunglücks vor Lampedusa am 3. Oktober 2013
rechts: Andreas Zierhut vor einer Grabkappelle im Rohbauzustand. Viele der Ertrunkenen konnten nicht identifiziert werden und so wurden sie als Nummer erst in den Verputz ihrer Grabstelle eingeritzt oder mit Filzstift an die Wand geschrieben. Später wurden diese durch einheitlich gedruckte Schilder ersetzt. Einige wenige Gräber wurden von Verwandten besucht und so bekamen einige der Nummern Namen und Gesichter.
Leserbrief zum Schiffsunglück vor Lampedusa von „Radowan“ in „ShortNews“ am 21.10.2013: „Ich hätte die Leichen von den Fischen auffressen lassen. Nun kosten die „Armutsflüchtlinge“ die EU, und damit hauptsächlich den deutschen Steuerzahler, doch noch einen Haufen Geld.“
Ich betrachte das Wort „Sozialtourismus“ als eine Ausdrucksform für Fremdenfeindlichkeit und für die Angst, teilen zu müssen. Für meine fotografische Auseinandersetzung wähle ich die hartherzigste Abgrenzung, an der ich als EU-Bürger in den letzten Jahren Anteil habe: Die Flüchtlinge, die in seeuntüchtigen, überfüllten Booten über das Mittelmeer nach Lampedusa kommen, um in Europa ein besseres Leben zu finden, lässt man einfach ertrinken. Viele dieser Menschen sind Kriegsflüchtlinge, sie fliehen vor Hunger und Gewalt, Naturkatastrophen und Unrechtssystemen. So wie Deutsche vor 70 Jahren flohen. Ich bin drinnen. Sie sind draußen. Ich bin nach Lampedusa gereist, um nach Bildern zu suchen, die das Ende der Reise von „Sozialtouristen“ zeigen und das posthume Schmarotzen eines europäisch finanzierten Grabes. Gefunden habe ich flüchtige, verstörende Blicke auf hoffnungsvolle Leben, die hätten gelebt werden können. Und meine eigene Verwicklung in die Frage: Was bedeutet „drinnen und draußen“ in einer globalisierten Welt?