2018 Anti-Abschiebe-Industrie

 

Pressemitteilung der Jury: Wahl des 28. „Unworts des Jahres“

„Der Ausdruck Anti-Abschiebe-Industrie wurde im Mai 2018 durch Alexander Dobrindt, den Vorsitzenden der CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag, als offensichtlicher Kampfbegriff in die politische Diskussion eingeführt: Eine „aggressive Anti-Abschiebe-Industrie“, so Dobrindt, sabotiere die Bemühungen des Rechtsstaates und gefährde die öffentliche Sicherheit.

Der Ausdruck unterstellt denjenigen, die abgelehnte Asylbewerber rechtlich unterstützen und Abschiebungen auf dem Rechtsweg prüfen, die Absicht, auch kriminell gewordene Flüchtlinge schützen und damit in großem Maßstab Geld verdienen zu wollen. Der Ausdruck Industrie suggeriert zudem, es würden dadurch überhaupt erst Asylberechtigte „produziert“. Wir stimmen einem/einer der Einsendenden zu, dass es sich hierbei um ein Unwort handelt, weil „mit diesem Begriff das geltende Gesetz verhöhnt wird, welches Grundlage unserer Wertegemeinschaft ist“. Als das Unwort 2018 gilt es uns, weil die Tatsache, dass ein solcher Ausdruck von einem wichtigen Politiker einer Regierungspartei prominent im Diskurs platziert wird, zeigt, wie sich der politische Diskurs sprachlich und in der Sache nach rechts verschoben hat und sich damit auch die Sagbarkeitsregeln in unserer Demokratie in bedenklicher Weise verändern.

Der Ausdruck Anti-Abschiebe-Industrie wurde 10x eingesandt.“


 

Stefan Daub

„6 aus 49“

Unser deutsches Rechtssystem ist so angelegt, dass jeder die Möglichkeit hat, den Rechtsweg zu beschreiten. Selbst bei legalen Glücksspielen verhält sich das nicht anders, auch wenn die „Der Rechtsweg ist ausgeschlossen”-Floskel Gegenteiliges suggeriert.

Nun scheint es, als möchte Alexander Dobrindt abgelehnten Asylbewerbern dieses Grundrecht verwehren – sie vom Rechtsweg ausschließen.

„Keiner aus 1.692“ *

Mohammed H. ist vor den Taliban aus Afghanistan geflüchtet. Weil er geltendes deutsches Recht in Anpruch nahm, konnte er erfolgreich gegen seine Ablehnung klagen. Der ausgebildete Dolmetscher lebt heute in Darmstadt.

* Nach einem Bericht der UN-Mission Unama wurden im ersten Halbjahr 2018 mindestens 1.692 Zivilisten in Afghanistan getötet.


 

Jan Nouki Ehlers

„Lieferant“

www.janehlers.net

„Letzter Verwerter“


 

Julia Essl

Flüchtlingsunterkunft in Groß-Umstadt

Wer sind die tatsächlichen Profiteure von nicht abgeschobenen Flüchtlingen? Diese beispielhafte Flüchtlingsunterkunft ist nur eine von vielen, die von Privatinvestoren gebaut und an die jeweiligen Landkreise für 6 bis 10 Jahre vermietet werden. Hier werden Pauschalen pro Bewohner vom Privatinvestor erhoben. Sobald die Bewohner einer Arbeit nachgehen, verlangt der Landkreis Mieten. So liegt der Höchstsatz für ein Bett in einer Gemeinschaftsunterkunft im Landkreis Darmstadt-Dieburg bei 194€. Der Landkreis Main-Taunus etwa verlangt von Bewohnern für ein Bett in einem 6-Bett-Zimmer mit Kochnische, verteilt auf 35 qm, inzwischen 398€. Das hat zur Folge: Die Integration verläuft schleppend, denn den Menschen, die einer Beschäftigung nachgehen, bleibt oft kaum mehr zum Leben als der Sozialhilfesatz.

www.juliaessl.de

JVA in Darmstadt-Eberstadt

Seit März 2018 wird auf dem Gelände der JVA Darmstadt ein Abschiebegefängnis eingerichtet. Bislang gibt es kaum mehr als eine Handvoll Plätze, die aber gerade auf 75 Plätze erweitert werden. Soll ein Flüchtling abgeschoben werden, kann er zur Vorbereitung der Ausweisung (die Haftdauer soll 6 Wochen nicht überschreiten) oder zur Sicherung der Abschiebung (die Dauer der Sicherungshaft beläuft sich auf 6-18 Monate) in Abschiebehaft genommen werden. Dazu muss er nicht straffällig geworden sein.

Abschiebehaft ist keine Strafhaft, deshalb muss die Einrichtung ganz klar von der JVA getrennt bleiben. Die Häftlinge dürfen z.B. ihre eigene Kleidung tragen und ihre Handys nutzen, aber nur mit versiegelter Kamera. Es gibt einen Gemeinschaftsraum, eine Gemeinschaftsküche und einen Gebetsraum, sowie einen kleinen grünen Außenbereich. Für die Haftkosten muss der Flüchtling selbst aufkommen. So heißt es in §66 (1) Aufenthaltsgesetz: Kosten, die durch die Durchsetzung einer räumlichen Beschränkung, die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung entstehen, hat der Ausländer zu tragen.


 

Albrecht Haag

Anti-Abschiebe-Industrie

Dieses Unwort diffamiert viele engagierte Menschen, die sich für Menschenrechte und würdevollen Umgang mit Geflüchteten einsetzen. Ich möchte eine Institution zeigen, die Herr Dobrindt bei seiner Äußerung möglicherweise nicht im Sinn hatte. Die Kirche steht in diesem Fall nicht im Verdacht, mit industriellen Maßstäben und Gewinnerwartungen Menschen zu helfen.

Ganz in der Nähe von Dobrindts Heimatort liegt Tutzing am Starnberger See. Dort gewährt die katholische Gemeinde St. Joseph Kirchenasyl, um die teilweise fehlerhaften oder voreiligen Entscheidungen des BAMF zu Abschiebungen zu stoppen und den Betroffenen zu einer verlängerten Frist zu verhelfen, die ein neuesVerfahren ermöglicht.

Der von Pontius Pilatus geprägte Ausspruch »Ecce homo!« – Seht den Menschen – ist für Pfarrer Peter Brummer nicht nur die moralische Richtschnur, sondern mehr noch unmissverständliches Gebot zum Handeln.

Fatima ist als Sechzehnjährige aus ihrer Heimat Sierra Leone geflohen, um einer Beschneidung zu entgehen. Über mehrere Jahre hat sie sich durch Afrika in Richtung Mittelmeer durchgeschlagen, teilweise anderen flüchtenden Frauen angeschlossen.

In Libyen wurde sie zur Prostitution gezwungen. Ein Freier verhalf ihr zu einem Platz auf einem Flüchtlingsboot. Seit elf Monaten ist Fatima im Kirchenasyl und wird noch bis Ostern bleiben. Sie engagiert sich in „ihrer“ Kirche und will Altenpflegerin werden.

www.albrecht-haag.de


 

Jens Mangelsen

Gibt es eine „Anti-Abschiebe-Industrie“?

Anfang Mai 2018 prägte Alexander Dobrindt (CSU Landesgruppenchef) den Begriff der Anti-Abschiebe-Industrie und eröffnete damit eine Diskussion über die Frage, ob Asylbewerber grundsätzlich alle Ihnen gesetzlich zustehenden Rechtsmittel ausschöpfen sollen/können/dürfen – oder nicht.

In der Folge stellten die auf Asylrecht spezialisierten Rechtsanwälte Bernd Waldmann-Stocker und Claire Deery (Bild) Strafanzeige gegen Herrn Dobrindt wegen Verleumdung, übler Nachrede und Beleidigung. Sie bezeichneten seine Aussage als „Frontalangriff auf den Rechtsstaat und das Grundrecht auf Rechtsschutz“.

Ende Mai 2018 legte Herr Dobrindt noch einmal nach: „Die Anti-Abschiebe-Industrie nutzt die Mittel des Rechtsstaates, um ihn durch eine bewusst herbeigeführte Überlastung von innen heraus zu bekämpfen“.

Weit geringere Anlässe leisten seit vielen Jahren ihren Beitrag zur Überlastung von Gerichten. Darf eine mögliche Justizüberlastung ausgerechnet denjenigen zum Nachteil gereichen, die nicht nur einen Anspruch auf den Rechtsweg, sondern auch existenzielle Konsequenzen zu befürchten haben? Wird diese Haltung dem Anspruch an unseren Rechtsstaat noch gerecht?

Die Kanzlei Waldmann-Stocker ist seit über 30 Jahren im Bereich Asylrecht tätig; Frau Deery gehört der Kanzlei seit 8 Jahren an. Sie ist nebenamtlich Vorsitzende des Flüchtlingsrates Niedersachsen, hilft aus Überzeugung und obwohl ihre Bezahlung in sehr vielen Fällen nicht sichergestellt ist. Hetze und Bedrohungen gehören hingegen zu ihrem Alltag. Im Ergebnis sind wir hier also weit entfernt von einer systematischen Gewinnmaximierung, die der von Herrn Dobrindt verwendete Begriff „Industrie“ implizieren möchte.

www.jeyoh.photography


 

Sebastian ReimolD

1) DER MENSCH

Den Ort seiner Geburt kann man nicht bestimmen, die politischen und persönlichen Umstände nur bedingt. Viele von uns kennen Menschen in der Verwandtschaft oder bei Freunden, die im Lauf ihres Lebens wegen Kriegen ihre Heimat verlassen mussten. Wer flieht, lässt engste Familienangehörige und Freunde zurück. Insofern ist Flucht und Migration ein uraltes Menschheitsthema.

2) DAS SCHWEBENDE VERFAHREN

Wer nach einer teilweise lebensgefährlichen Flucht Deutschland erreicht hat, kann auf ein rechtsstaatliches Asylverfahren hoffen, an dessen Ende aber auch die Abschiebung stehen kann. Abhängig vom Herkunftsland sind die Chancen, als Geflüchtete(r) anerkannt zu werden, sehr unterschiedlich. Da wir selten direkt die Geschichten der geflüchteten Menschen zu hören bekommen, besteht die Gefahr, dass wir die Einzelschicksale nicht kennen und nur noch Zahlen sehen. Die Menschen leben in dieser Zeit des „schwebenden Verfahrens” möglichst unauffällig unter uns. Sie haben große Angst, sich falsch zu verhalten und deswegen ausgewiesen zu werden. Um niemanden zu gefährden, der sich gerade in einem laufenden Asylverfahren befindet, zeige ich exemplarisch die Bilder eines Puppenkopfes. Wie unterschiedlich die Bundesregierung das Risiko in Konfliktgebieten sieht, wird am Beispiel Afghanistan deutlich: Das Auswärtige Amt der Bundesrepublik Deutschland spricht eine dringende Reisewarnung aus: „Vor Reisen nach Afghanistan wird gewarnt. Wer dennoch reist, muss sich der Gefährdung durch terroristisch oder kriminell motivierte Gewaltakte einschließlich Entführungen bewusst sein.”… „Von Überlandfahrten wird dringend abgeraten.“… „Die medizinische Versorgung ist in weiten Landesteilen unzureichend, eine Notfallversorgung mit funktionierender Rettungskette meist nicht existent.” 1) (Stand 28.02.2018) Auch die Regierungen anderer Staaten warnen dringend vor einer Einreise nach Afghanistan. 2)

Dennoch wurden auch im vergangenen Jahr regelmäßig Menschen nach Afghanistan abgeschoben, teilweise in Sammelabschiebungen. Dazu Omid Nouripour, Außenpolitischer Sprecher der Grünen im Bundestag: „Selbst der Lagebericht der Bundesregierung gesteht ein, dass eine Abschiebung für die Menschen nicht zumutbar ist…Die Regierung tut aber genau das Gegenteil.” 3)

Quellen:

1) https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/afghanistan-node/afghanistansicherheit/204692

2) https://www.huffingtonpost.de/entry/afghanistan-kein-krieg-ist-todlicher-warum-deutschland-trotzdem-abschiebt_de_5c1269b3e4b0449012f75bb1

3) https://www.reisewarnung.net/afghanistan

www.sebastian-reimold.de


 

Jens Steingässer

„Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“

Grundgesetz Art. 3 (1)

„Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. (…)“

Grundgesetz Art. 3 (3)

www.jens-steingaesser.de


 

Rahel Welsen

“Anti-Abschiebe-Industrie!”

2018 stehen Landtagswahlen in Bayern an. Die CSU läuft Gefahr, viele Wählerstimmen an die AfD zu verlieren...

“Ich werde morgen die Baufreigabe für die Ortsumfahrung Oberau machen. Alles wie besprochen. Du zahlst das Fest.”

(Alexander Dobrindt per SMS an den Bürgermeister von Oberau) Während seiner Zeit als Bundesverkehrsminister haben sich die Mittel für Neubauprojekte in Dobrindts Heimat Bayern markant vermehrt: Zwischen 2010 und 2016 stiegen die Zuwendungen des Bundes für Fernstraßen in Bayern um 521 Mio. Euro. Alle anderen Bundesländer erhielten dagegen im Schnitt lediglich 7,3 Mio. Euro...

“Lehnen wir ab!!! Komplett streichen!”

(Handschriftlicher Vermerk Dobrindts zum Entwurf einer Musterfeststellungsklage für Verbraucher, die zwischen Justiz-, Finanz-, Umwelt- und Verkehrsministerium bereits weitgehend abgestimmt war) Auch die Diesel-Affäre fällt in seine Amtszeit als Bundesverkehrsminister. Und in Bayern sitzen zwei große Automobilkonzerne...

Linkes Bild: Tunnelbau in Oberau

Rechtes Bild: Feinstaubfiltersäulen am Neckartor in Stuttgart

www.rahel-welsen.de


 

Andreas Zierhut

Vieles geht schief in unserem Land - der Begriff „Anti-Abschiebe-Industrie“ ist ein Teil davon. Derartiges Schiefgehen ist aber – zum Glück – nur das Geschwätz eines Stammtisch-orientierten Wahlkämpfers. Die wirklich gute Nachricht ist: In Deutschland entscheiden Gerichte und nicht Stammtische oder Politiker, was Recht ist und was Unrecht. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes haben nach Drittem Reich und Krieg sehr genau hingesehen. Und sie haben eine Verfassung geschaffen, die uns alle in unseren Rechten sehr wirksam schützt – auch vor staatlicher Willkür.

Wie schon gesagt: Vieles geht schief in unserem Land – es sind ja alles nur Menschen, die das Recht umzusetzen haben. Aber trotzdem stehen wir alle unter dem wirkmächtigen Schutz unseres Grundgesetzes: Alexander Dobrindt ist mit seinem Geschwätz geschützt durch Artikel 5 Absatz 1: Meinungsfreiheit. Die klagenden Asylbewerber durch Artikel 19: Recht auf effektiven Rechtsschutz. Wir alle durch Artikel 1 Absatz 3: Bindung von Legislative, Exekutive und Judikative an die Verfassung und Artikel 20 Absatz 3: Vorrang der Verfassung vor den einfachen Gesetzen. Alexander Dobrindt darf weiterschwätzen – er hat aber wenig zu melden. Das ist ein großes Glück, finde ich, und merke bei genauerem Hinsehen, dass ich mich mit diesem Grundgesetz ausgesprochen wohlfühle. Dass es zu den Dingen in meinem Leben gehört, auf die ich mich aus tiefstem Herzen verlasse. Deshalb hat es einen Platz unter den Dingen, die mir wichtig sind, unbedingt verdient.

Linkes Bild: Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe

Rechtes Bild: Der Saal in Bonn, in dem der Parlamentarische Rat das Grundgesetz verhandelt, beschlossen und am 24. Mai 1949 verkündet hat. (Der Raum, eigentlich eine Aula, wurde dann später der Sitz des Bundesrats, dem auch die aktuelle Einrichtung zuzuordnen ist. 1948/49 wurde der Saal in Längsrichtung, der Blickrichtung der Kamera entsprechend genutzt)

www.andreaszierhut.de