2014 „Lügenpresse”
Pressemitteilung der Jury: Wahl des 24. „Unworts des Jahres“
“Bei "Lügenpresse" handelt es sich um einen nationalsozialistisch vorbelasteten Begriff, der im Zuge der Pegida-Bewegung gezielt Verwendung findet, dabei jedoch nicht vollständig reflektiert wird. Die Jury drückt mit der Wahl ihre Kritik an der Sprache dieser Bewegung aus. Dass Mediensprache eines kritischen Blicks bedarf und nicht alles, was in der Presse steht, auch wahr ist, steht außer Zweifel. Mit dem Ausdruck „Lügenpresse“ aber werden Medien pauschal diffamiert.
Das Wort „Lügenpresse“ war bereits im Ersten Weltkrieg ein zentraler Kampfbegriff und diente auch den Nationalsozialisten zur pauschalen Diffamierung unabhängiger Medien. Gerade die Tatsache, dass diese sprachgeschichtliche Aufladung des Ausdrucks einem Großteil derjenigen, die ihn seit dem letzten Jahr als „besorgte Bürger“ skandieren und auf Transparenten tragen, nicht bewusst sein dürfte, macht ihn zu einem besonders perfiden Mittel derjenigen, die ihn gezielt einsetzen. Dass Mediensprache eines kritischen Blicks bedarf und nicht alles, was in der Presse steht, auch wahr ist, steht außer Zweifel. Mit dem Ausdruck „Lügenpresse“ aber werden Medien pauschal diffamiert, weil sich die große Mehrheit ihrer Vertreter bemüht, der gezielt geschürten Angst vor einer vermeintlichen „Islamisierung des Abendlandes“ eine sachliche Darstellung gesellschaftspolitischer Themen und differenzierte Sichtweisen entgegenzusetzen. Eine solche pauschale Verurteilung verhindert fundierte Medienkritik und leistet somit einen Beitrag zur Gefährdung der für die Demokratie so wichtigen Pressefreiheit, deren akute Bedrohung durch Extremismus gerade in diesen Tagen unübersehbar geworden ist.”
Stefan Daub
Auszug aus der Serie „Unverblümt”
Dem Vorwurf einer Lüge begegnet man am besten mit Wahrheit und Aufrichtigkeit. Direkt und unverblümt zeigen sich Chefredakteure/innen der deutschen Medien- und Presselandschaft.
Kai Diekmann
Chefredakteur und Herausgeber, Bild
Dagmar Engel
Chefredakteurin Hauptstadtstudio, Deutsche Welle
Jan Nouki Ehlers
Die Wahrheit liegt in der Mitte.
Bei journalistischen Berichterstattungen liegt immer auch eine Eigenverantwortung bei dem Leser. Denn der Mensch ist nicht objektiv, sondern geprägt und somit subjektiv. Das gilt für den Sender und den Empfänger. Somit sollte man sich als mündiger und selbständiger Endverbraucher, ähnlich wie bei einer etwas komplexeren Arztdiagnose, mehrere Konsultationen, Interpretationen und Folgeschlüsse einholen und nicht nur konsumieren.
Das Selbstportrait „In der Mitte liegt die Wahrheit“ visualisiert durch Spiegelungen der rechten bzw linken Gesichtshälften, dass Meinungen oder Berichterstattungen oft nicht beide Seiten eines Ereignisses darstellen können. Das fängt bei der roten Karte im Fussball an, über den von einer Seite zum Helden stilisierten Kämpfer und geht bis zu internationalen Krisen.
Dass die Presse unterwandert von Parteibüchern, Vereinsmitgliedschaften oder PR Agenturen, mit mangelnder Zeit, Ressourcen und knappen Budgets andauernd liefern muss hat zur Folge, dass unterdurchschnittliche, reißerische journalistische Arbeiten an die Öffentlichkeit geraten.
Diese sind für die die pauschal Verurteiler ein gefundenes Fressen. Dass Manche andere Meinungen als Lüge bezeichnen, ist nicht haltbar, ist aber bei Ungebildeten ein normaler Reflex. Wutbürger die bei der Lektüre zu Ihren Taten feststellen müssen, dass die Medien denen sie vertrauten, ihre Taten nicht für gut heißen kommen sich verkauft und verraten vor.
Ungebildet ist in diesem Falle durch Uninformierte zu ersetzten. Dass die Presse den Uniformierten, einen Blick über Ihren Tellerrand zeigt und sie bloßstellt, ist für Außenstehende ganz lustig und mutet ein wenig wie bei „Willkommen bei den Sch´tis“ an - kann aber ganz schnell zu einer dunklen Zeitreise nach Lichtenhagen oder Mölln werden. Wir müssen aufpassen, dass aus den Uniformierten keine Uniformierte werden, dann wird alles gut
Julia Essl
“Lügenpresse”
Die offene Handhaltung soll dazu auffordern, ohne Gewalt aufeinander zuzugehen, eine friedliche Kommunikation zu wählen. Die Kommunikation zwischen Bürger und Politiker muss besser funktionieren, damit es nicht zu weiteren Pegida Aufmärschen kommen muss, die eindeutig Fremdenhass schüren, der nicht zu unserem Demokratie- und EU-Gedanken passt.
"Lügenpresse halt die Fresse” Mit dieser Parole geht die Pegida aggressiv auf die Straße, die mit einem Faustschlag vergleichbar ist. Ob die Presse den "Schlag" abbekommt, sie verbreite nur Lügen; oder ob der Mensch den "Schlag" abbekommt, indem er in Hitlers Zeiten zurückversetzt wird.
Albrecht Haag
“Lügenpresse”
Bei diesem bereits als historisch bezeichneten Foto (bzw. Pool von Bild-Serien) lief einiges schief. So auch, dass die Inszenierung schon am nächsten Tag als solche bekannt wurde und mit Sicherheitsaspekten und »die Geste zählt« entschuldigt wurde.
Ich vermute, es ist genau diese Art von Manipulation und die unnötige Komplizenschaft der Foto-Kollegen, die das dumpfe Gefühl unterstützen, es gäbe so etwas wie eine allgemeine Lügenpresse.
Der Abstand zwischen Wahrheit und Lüge beträgt in diesem Fall etwa 1.500 m.
Der gemeinsame Trauermarsch der Politiker am 11. Januar in Paris wurde als »am Kopf des Zuges« publiziert. Die große Demonstration fand am Place de la République statt. Etwas weiter entfernt (1.500 m) haben die Politiker Ihren Marsch inszeniert.
Die Kameramänner und Fotografen-Kollegen haben sich soweit wohl an das Briefing gehalten und die Inszenierung der überschaubaren Gruppe aus Politikern und Sicherheitsleuten nur aus Augenhöhe gezeigt bzw. entsprechende Ausschnitte gewählt.
Jens Steingässer
Eine Eisscholle. Ein kuscheliges, weißes Robbenbaby mit dunklen Kulleraugen. Eins, zwei, drei kräftige Schläge mit einem Knüppel. Das Robbenbaby geht vor den Augen seiner Mutter elend zugrunde, damit die Pelzindustrie den Reichen und Schönen ein neues Statussymbol verkaufen kann. In den 80er Jahren gingen diese Bilder um die Welt. Großflächig an die Presse verteilt, wurde diese Greenpeace-Kampagne gegen das Abschlachten von Robbenbabys in der Arktis zu einem weltweiten Erfolg. Die PR-Aktion zielte gegen den kommerziellen Robbenfang in Kanada. Die Presse sprang auf den fahrenden Zug auf, und stempelte die Robbenjagd als generelle Tierquälerei ab. Die öffentliche Meinung war geprägt von Schlagzeilen und einseitigen Bildern.
Die Jäger der Inuit, die zur Versorgung ihrer Familien und Schlittenhunde auf Robbenfleisch und die Nebeneinkünfte aus dem Verkauf der Felle angewiesen waren, fanden in dieser verkürzten und undifferenzierten Berichterstattung keinen Platz. Ihre Existenzberechtigung als Jäger - und damit Ihr Stolz - war innerhalb kürzester Zeit zerstört. Damals von Greenpeace diffamiert, stehen sie noch immer als Tierquäler am Pranger. Zudem ist die Nachfrage nach Ihren „nachhaltig“ gejagten Fellen komplett eingebrochen. Tobias Ignatiussen ist einer der letzten Jäger in Ostgrönland. Neben seiner Tätigkeit als Guide kann er seine Familie und Schlittenhunde noch mit der Robbenjagd versorgen. Der Großteil der ehemaligen Inuit-Jäger lebt heute aber ausschliesslich von Sozialhilfe. Alkoholismus, häusliche Gewalt und eine der höchsten Selbstmordraten der Welt sind zur Normalität geworden.
Ein Kollateralschaden einer (fast) perfekten Medienkampagne.
Rahel Welsen
Die Opportunisten.
Auf der einen Seite verschanzen sich die PEGIDA-Aktivisten hinter dem Wort “Lügenpresse” und entziehen sich so jeder Diskussion. Auf der anderen Seite werden dienliche Presse-Artikel gerne als Untermauerung für eigene Hass-Tiraden verwendet und auf den Montags-Demos als Schilder triumphierend vor sich hergetragen.
Andreas Zierhut
“Homo silentius -- Homo normalus”
Das Wort “Lügenpresse” ist weder eine Auseinandersetzung mit der Wahrheit, noch mit der Medienlandschaft. Undifferenziert eingesetzt und auf den PEGIDA-Demonstrationen als Kampfruf skandiert, wirkt die Diffamierung in zweierlei Weise: Erstens werden unliebsame Weltbilder ausgehebelt, zweitens muss sich PEGIDA Kritik an eigenen Positionen nicht stellen - “Lügenpresse” steht wie ein Schutzschild vor der Meute.
Der Begriff greift schon vor einer Auseinandersetzung - egal, was die anderen zu sagen haben, egal wie unreflektiert die eigenen gesellschaftlichen Analysen sind: “Lügenpresse” verweigert das Verständnis, verweigert Austausch und erschlägt Gegenargumente.
Wir schreiben das Jahr 2551: In einem langen evolutionären Prozess ist biologisch manifest geworden, was in den Demonstrationen 2014/15 nur herausgeschrien werden konnte. Die Welt ist endlich geteilt in Rechthaber und Zuhörer. Leider ist immer noch nicht bekannt, was PEGIDA will.